Erfolgreiche Kooperation: Das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Moskauer Marx-Engels-Institut (1924–1928). Resümee von Rolf Hecker
Die erstmals umfassend dokumentierte Zusammenarbeit zwischen dem Frankfurter IfS und dem Moskauer MEI in den Jahren von 1924 bis 1928 widerspiegelt ein entscheidendes Kapitel in der Editionsgeschichte der MEGA. Diese erscheint in einem anderen Licht, als es bisherige Darstellungen vermitteln konnten. Der persönliche Anteil von Grünberg, Weil und Pollock am Entstehungsprozess dieses von Rjazanov inspirierten Editionsvorhabens wird neu bewertet: ohne deren Engagement für eine historisch-kritische, akademische Ausgabe, ohne deren Vermittlerrolle gegenüber dem SPD-Parteivorstand, ohne deren Bemühungen für den Einsatz qualifizierter und kompetenter Mitarbeiter und ohne deren zusätzliche materiellen und organisatorischen Leistungen wäre der Beginn der MEGA nicht denkbar gewesen.
Die Vorbereitung von Erstveröffentlichungen aus dem Marx-Engels-Nachlass in der MEGA war in der Anfangsphase durchaus ein Anspruch, der auch durch Bernstein, als von Engels neben Bebel testamentarisch bestimmter Nachlassverwalter, und den SPD-Vorstand Unterstützung fand. Die Persönlichkeiten Grünberg und Rjazanov, letzterer als Herausgeber der MEGA, waren Gewähr für die Ernsthaftigkeit und Wissenschaftlichkeit des Unternehmens, in dem parteipolitische Bindungen zunächst in den Hintergrund traten. Es kann wohl als ein einmaliger Vorgang bezeichnet werden, dass durch Nikolaevskij und einen weiteren Archivar die wichtigsten und wertvollsten Teile des SPD-Archivs geordnet und inventarisiert wurden. Die vom SPD-Vorstand erteilte Zustimmung zur Fotokopierung des Marx-Engels-Nachlasses und weiterer Archivbestände entsprach den Bestrebungen, diese Schätze 30 Jahre nach Engels‘ Tod zugänglich zu machen.
Im Briefwechsel Rjazanovs mit Grünberg und den Vertretern des IfS finden sich kaum Hinweise über die politischen Veränderungen in der Sowjetunion nach Lenins Tod, über die beginnende Stalinisierung und die „Block“-Auseinandersetzungen in den Gesellschaftswissenschaften. Möglicherweise äußerten sich Rjazanov und Czóbel darüber während jährlicher Zusammenkünfte mit Grünberg und Weil in Deutschland bzw. während der Besuche von Weil und Pollock in Moskau. Die politische Entwicklung der KPdSU (B) und der KPD unter dem Einfluss der KI wurde jedoch zum Ausgangspunkt für den Bruch des SPD-Vorstandes mit dem MEI und der Entziehung dessen Legitimation für die Benutzung des SPD-Archivs. Der schrittweise Rückzug des IfS, insbesondere von Weil und Pollock, aus dem MEGA-Projekt muss ebenfalls in diesen Zusammenhängen gesehen werden.
Der Freundschaft zwischen Rjazanov und Grünberg konnten diese politischen Entwicklungen jedoch keinen Schaden zufügen. Nach Grünbergs Schlaganfall waren die Briefe Rjazanovs sehr persönlich geprägt. Die Vertrautheit der beiden verstärkte sich mit den von Grünberg zu erleidenden Behinderungen. Rjazanov erkundigte sich regelmäßig nach dessen Gesundheitszustand. Grünberg schöpfte aus den persönlichen Worten seines Freundes Kraft und Zuversicht für die Realisierung gemeinsamer Projekte, die nach 1928 allerdings nicht mehr zustande kommen konnten.
Rjazanov war Kopf und Herz des MEGA-Projekts und er widersetzte sich mit der ihm eigenen Starrköpfigkeit seinem Scheitern. Nicht nur, dass er Weil bat, die Trennung der Gesellschaftsanteile am gemeinsamen Verlag in beiderseitigem Einvernehmen zu vollziehen, und im Gespräch mit Dittmann um Einsicht für das Gelingen des Projekts rang, sondern auch in den zuständigen ZK- und KI-Abteilungen trat Rjazanov gegen Behinderungen seiner Arbeit massiv auf. Sein politisches Engagement gegen Stalinsche Repressionen gegenüber Andersdenkenden war in der KPdSU (B) bekannt. Er beschäftigte u.a. als Hauptkorrespondenten in Deutschland den aus Sowjetrussland ausgewiesenen Nikolaevskij und als Mitarbeiter in seinem Institut den wegen „menschiwistischer Positionen“ angefeindeten Ökonomen Rubin. Rjazanov bewahrte sich weitgehend die Unabhängigkeit seines Urteils. Insofern geriet er bei der ersten Gelegenheit in die Fänge des NKWD – Stalin selbst ordnete seine Verhaftung und Ausschaltung als Institutsdirektor an.
Der wichtigste Ertrag der vierjährigen Zusammenarbeit zwischen dem IfS und dem MEI kann vor allem darin gesehen werden, dass die Idee einer Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels in den ersten MEGA-Bänden materialisiert wurde. Hier traf sich zunächst die Interessenlage aller Beteiligten: möglichst vollständige Veröffentlichung des literarischen Nachlasses der Klassiker in einer akademischen Edition unter Zurücknahme von parteipolitischen Kommentierungen – die ersten Bände der MEGA widerspiegelten einen neuen editorischen Standard. Sobald eine der Seiten gezwungen wurde, den Rahmen dieser Übereinkunft zu verlassen, waren Komplikationen unausweichlich, die schließlich diesem fruchtbaren Zusammenwirken ein Ende setzten.